Aufruf zu den Grundwerten der Piratenpartei in Denken und Handeln


Menschen sind wichtiger als Ideologien – Es ist kein Richtungsstreit!

Anlässlich der Rücktritte von drei Mitgliedern des Bundesvorstands und des bevorstehenden Außerordentlichen Parteitages schreibe ich nun doch mal was zu dem ganzen Schlamassel.

„Verdammte Hacke“ hab‘ ich gedacht, als der Rücktritt von drei Mitgliedern des Bundesvorstandes durchkam. Dieser Schritt schien den Handelnden wohl die letzte mögliche Option, um einen Sonderparteitag zu ermöglichen. Man steckt da ja nicht drin – aber ich hätte mir gewünscht, dass das auch ohne BuVo GAU geht.

Nachdem angesichts von Bombergate und Flaschenwerfen kein Ruf zur Ordnung an die beteiligten Piraten erging, war die Partei in großen Teilen (über 80% laut aktueller Umfrage der Piraten NDS) verunsichert,  und wusste nicht, ob die Duldung dieser – sorry – dämlichen Aktionen nun bedeute, dass unser BuVo die Piraten als politischen Arm dieser Aktivisten verstand oder wie oder was …

Identitätskrise mangels weiser Führung

Der Impuls, sich emotional vor die tatsächlich krass bedrohten Frauen zu stellen, ist ja für alle leicht verständlich. Die Schutzwürdigkeit bedrohter Personen steht, denke ich, für niemanden zur Debatte. Aber man kann ja das eine tun, ohne das andere zu lassen. Die beiden dann NICHT zur Ordnung als Mitglieder der Piratenpartei zu rufen – führte zu dem ANGEBLICHEN „Richtungsstreit“. „Hä? Zu was?“ dachte ich, als das durchkam. Piraten sind eine pluralistische Mitmachpartei – hab‘ ich was verpasst?

Der angebliche Richtungsstreit wurde dann tituliert als zwischen Links und rechts oder links und liberal oder linksradikal und sozialliberal oder … geht’s noch?!

Mit politischen Richtungen hat die Frage absolut nix zu tun, sondern mit der Wahl der Mittel und deren Akzeptanz oder Ablehnung:

„Sind wir (auch) der politische ‚Arm‘ „gewaltbereiter Aktivisten“ – ja oder nein?“

Diese Frage stand ungelöst, unbearbeitet und für die meisten beunruhigend in der Luft. Und dort wurde sie stehengelassen. Statt dessen wurden alle möglichen emotional und strategisch verständliche Nebenkriegsschauplätze aufgemacht, die aber hauptsächlich mehr Verwirrung stifteten. Eine klare Antwort wäre und ist für beide – extrem unterschiedliche Seiten – fundamental wichtig:

Für jene, die die Frage gerne mit ‚JA‘ beantwortet hätten muss meines Erachtens glasklar mit: „Nein, sind wir nicht“ geantwortet werden.

Für jene, die die Frage mit „Nein“ beantwortet haben wollen, ist dieses ‚“Nein, sind wir nicht.“ essentiell für das weitere Selbstverständnis als politische Partei.

In der Sichtweise der Nicht-Handelnden im BuVo – ich kann hier natürlich nur vermuten – wurde „Schützen“ und ‚zur Ordungsmaßnahme greifen‘ als unvereinbare Gegensätze gedacht und gefühlt. Und sehr sehr lange einfach nichts getan in der Sache.

Die daraus resultierende Führungsschwäche in den Augen der Partei konnte nicht schlimmer wirken. Einige fühlten sich mit der Unklarheit, ob Piraten auch gewaltbereiten Aktivismus (selbst wenn es nur Fläschlein werfen ist) unterstützen, in der Partei nicht mehr zuhause und verließen uns.

Gleichzeitig fühlten und fühlen sich jene, die gerne ein „Ja“ auf die Frage, ob wir auch der Arm der gewaltbereiten Aktivisten sein wollen, wünschten, bestätigt und begannen nun frei zu drehen, Andersdenkende zu dissen, die dissten zurück usw. usf. Alles wurde immer undurchsichtiger, alle möglichen halb-, ganz- oder gar nicht wahren Gerüchte machten die Runde. Eine Seite würde die andere am liebsten rausekeln und damit brach sich Bahn, was bereits über Jahre schwelte. In dem Prozess haben wir uns nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Die Bereitschaft, über diesen Streit die Partei krass zu schädigen, ist mehr als erschreckend.

Wenn der BuVo nicht führt, führen eben die Kontrahenten und alle, die sich einmischen wollen

Ein solches ‚Spiel zweiten Härtegrades‘ (Begrenzte Vernichtungsschläge) in Kauf zu nehmen allein erschreckt zu Recht den überwiegenden Teil der Piratenpartei. Deswegen muss das beendet werden. Zunächst ist das Spiel als solches zu ächten. Sodann die Polarisierung in ‚Die (meine) Wahrheit‘ versus ‚Du bist nicht OK‘, was noch schwieriger ist. Denn aus der Beschreibung des Funktionalen (Politische Richtung egal) Faschismus (http://www.funktionaler-faschismus.de/theorie-des-ff/) folgt, dass die Argumentation so geht, dass der andere als Person zu zerstören ist, die eigene Meinung aber sachlich begründbar ist. Crazy, ain’t it?

Insofern geht es hauptsächlich um die Abgrenzung von absolutistischen Bestrebungen – egal welcher Art – sowie als Minimumforderung zur Erneuerung des eigentlich selbstverständlichen Bekenntnisses zur FDGO. Die dringend benötigte Führung muss also nix Neues erfinden, sondern konsequent klar machen, was die Piratenpartei ist – und was nicht. Welche Botschaften könnten hier helfen?

„Wir sind nicht der politische Arm von Dogmatikern und gewaltbereiten Aktivisten.“

„Verstöße gegen die Satzung werden jetzt und in Zukunft angemessen thematisiert und falls nötig, mit Ordungsmaßnahmen geahndet.“

„Wir sind der politische Arm einer weltweiten Bewegung für eine friedliche,  freie, nachhaltige und gerechte Welt usw. usf …“

Es geht also nicht um den Richtungsstreit innerhalb einer friedlichen Partei, sondern darum, ob Friedfertigkeit/Gewaltbereitschaft und Ausgrenzung/Emotionale Misshandlung in dieser Partei geduldet wird. Ergo geht es viel mehr um das Einfordern einer Kultur des angemessenen, konstruktiven Umganges miteinander. Also darum, aus welcher Wertehaltung heraus gehandelt wird, nicht welche politische Idee jemand vertritt. Statt um einen Richtungsstreit geht es aktuell um die Bearbeitung unseres Werteverständnisses. Es geht um ein ‚offenes aufeinander zugehen‘ versus ‚Ausgrenzung bei Nichtgefallen‘.

In einer pluralistischen Welt ist Absolutismus keine Option

Es gibt ideologische Glaubenssysteme unterschiedlicher Ausrichtung, die den Anspruch erheben, die Wahrheit gepachtet zu haben. Diese in der Soziologie wertetheoretisch absolutistisch genannten, ‚geschlossenen‘ Weltmodelle fordern automatisch Missionierung oder Unterdrückung der Andersdenkenden. Absolutistischen Glaubenssystemen sollte m.E. die Piratenpartei daher eine prinzipielle Absage erteilen. Als Partei scheint es selbstverständlich, dass die Partei in den Wertewelten ‚Personalistisch‘ und darüber gegründet ist. Was – ganz nebenbei – auch den Anspruch der „Ersten postmateriellen Partei“ erklärt.

Wertemodell nach Clare Graves

Werte-Entwicklungsmodell nach Clare Graves

Wer sich zu handlungsleitenden Wertehaltungen weiter informieren möchte, sei das Wertemodell nach Clare Graves und die aktuelle Kurzzusammenfassung auf http://www.aenderungfunkt.wordpress.com von Angelika Brandner empfohlen.

Der Codex der Piratenpartei gilt unumstößlich (https://wiki.piratenpartei.de/Kodex)

Als pluralistische Partei, ja als ‚Mitmach-Partei‘, dürfen und sollen unterschiedliche Meinungen möglich sein. Wer allerdings mit absolutem Anspruch an seine eigene Wahrheit meint, andere ausgrenzen und einschüchtern zu dürfen, hat m.E. keinen Platz in der humanistisch fundierten Piratenpartei. Wer disst, mobbed etc. verhält sich entgegen des Codex‘ der Piratenpartei und ich denke, die meisten Mitglieder erwarten, dass solches Verhalten durch die jeweils zuständigen Gremien der Partei angemessen bearbeitet wird.

Außerordentlicher Parteitag: Das ‚Große Treffen der Stämme‘

Jetzt ist der Weg frei zur Neuwahl des Bundesvorstandes auf einem außerordentlichen Bundesparteitag. Ob in sechs, acht oder neun Wochen ist nicht der wesentliche Aspekt. Auch wenn einige mit #keinhandschlag nicht ins EU-Parlament zu wollen scheinen. Mit der Wahl des neuen Bundesvorstandes werden die Weichen für die Zukunft der Piratenpartei gestellt. Eine Gelegenheit für uns alle, für unsere Grundwerte Meinungsfreiheit, Akzeptanz des Anderen und Pragmatismus in der Politik jenseits althergebrachter Klischees einzutreten. Laßt uns gemeinsam an der Weiterentwicklung von Piratenpartei und Gesellschaft arbeiten. Piraten werden mehr denn je gebraucht, in Deutschland, in Europa und nie zu vergessen: Als globale Bewegung mit 177 Piratenparteien, die ein Systemupdate für die global vernetzte Gesellschaft der Zukunft fordern.

Investieren in Demokratie und unsere Zukunft

Ich trete dafür ein, dass unsere zuständigen Parteiorgane alles in ihrer Kraft stehende tun, um so vielen Piraten wie möglich die Teilnahme am kommenden Sonderparteitag zu ermöglichen. Lasst uns und der Öffentlichkeit zeigen, dass ein breiter Konsens in Bezug auf unseren piratigen Ansatz in der Politik besteht. Nachvollziehbarkeit politischer Prozesse, Netzfreiheit als Garant der freien Entwicklung der Gesellschaften und das Einstehen für Bürgerrechte in einer Zeit, in der im Eiltempo demokratische Strukturen zur Farce verkommen, sind und bleiben unser Kanon für eine bürgerorientierte Politik im 21. Jahrhundert. Keine Partei außer den Piraten kann diese Positionierungen glaubhaft vertreten.

Ein Fest der Demokratie

Jetzt braucht es alle Anstrengung, die Wachstumsschmerzen unserer jungen Partei zu heilen und unseren Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Jetzt kommt es auf Euer, auf das Engagement jeder und jedes Einzelnen an, diese Botschaft durch Teilnahme am Außerordentlichen Bundesparteitag zu bekunden. Lasst uns die Veranstaltung zu einem Fest der Demokratie machen. Kommt und wählt, wie nur Piraten es können 😉